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Die Welthauptstadt der
Fliegenpilze
Am Brunnen vor dem Berge - In Bad
Harzburg / Von Andreas Schlüter
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Der Harz gehört zu den berühmtesten deutschen Landschaften.
Tiefe Wälder, schroffe Berge, deutsches Brauchtum, festes
Schuhwerk und ein Lied auf den Lippen: So sahen in den
Jahrzehnten vor den Billigfliegern Richtung Sonne deutsche
Ferien aus. Diese Zeiten sind lange vorbei.
Für den, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, klingt
schon der Name Bad Harzburg - "das Tor zum Harz" - nach
Langeweile und Ödnis. Bad Harzburg
klingt nach Krankenkasse, orthopädischem Schuhwerk und seltsamen
Käsespezialitäten. Dagewesen ist
aber fast jeder schon einmal. Ob auf Klassenfahrt oder um die
Großmutter während ihrer offenen Badekur zu besuchen.
Schlimmstenfalls, um hier mit den Eltern selbst Ferienwochen zu
verbringen.
Wie jedes andere deutsche Kurbad mußte
sich auch Bad Harzburg den veränderten Zeiten anpassen,
spätestens seit mit der Gesundheitsreform die Badekur zum Relikt
vergangener Zeiten geworden ist. Erstaunlich aber ist die Zahl
von 531 852 gemeldeten Übernachtungen für das vorige Jahr. 97
598 Gäste haben durchschnittlich sechs Tage in Bad Harzburg
verbracht, nicht eingerechnet die Tagesgäste.
Auf den ersten Blick erscheint die Stadt, die
fünfundzwanzigtausend Einwohner zählt, wie ein riesiges
Seniorenheim. Das Alter fast aller Passanten liegt jenseits der
Fünfundsechzig, die Geräusche in der Innenstadt sind wie durch
Watte gedämpft, das Tempo aller Bewegungen erscheint seltsam
zeitlupenhaft. Über den Dächern
liegt eine beruhigend einlullende und blutdrucksenkende
Atmosphäre von mildem Lebensabend.
Bad Harzburg ist zu jeder Jahreszeit gut besucht. Auf der
"Bummelallee", dem zur Fußgängerzone gemachten Herzstück der
Herzog-Wilhelm-Straße, herrscht reges, kleinstädtisches Leben.
Gebummelt wird hier allerdings weniger. Die Passanten, fast
allesamt Kurgäste, bewegen sich größtenteils komplizierter
vorwärts. Gestützt auf Gehhilfen aller Art oder in
Elektro-Rollstühlen flaniert man hier. In den Schaufenstern der
Geschäfte wird gediegene Kleidung in Übergrößen und
Schattierungen von Dunkelbraun bis Beige angeboten. Prachtvoll
dagegen die Schaufenster der vielen Cafés, in denen sich die
erstaunlichsten Tortenkreationen zu bunt schillernden Bergen
auftürmen. Was nicht Café oder gediegene Boutique ist,
muß zwangsläufig medizinisches
Fachgeschäft sein.
Im Stadtzentrum, gegenüber der jüngst restaurierten Holzfassade
des Hotels Victoria, erhebt sich auf grüner Rasenfläche ein
seltsamer Riesenvogel, zusammengesetzt aus bunt blühenden
Pflanzen. Die goldene Krone sitzt schief, das rechte Auge fehlt.
Giftig starrt die einäugige Riesenskulptur auf das geruhsame
Leben des Platzes, so als könnte sie jederzeit mit ihrem
Blechschnabel eine der zahlreichen alten Damen von der Straße
wegpicken.
Der eigenwillige, fast bizarre Charme des heilklimatischen
Luftkurortes erschließt sich aber auch dem oberflächlichsten
Besucher schnell: Bad Harzburg ist ein Gesamtkunstwerk, Kunst im
öffentlichen Raum, wohin man blickt. Da steht eine bronzene Dame
in langem Kleid neben einem Esel und erinnert an den Beginn des
Kurbetriebs im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, als
man den Burgberg noch hinaufritt.
Ein paar Schritte weiter rosten verwegene Metallkonstruktionen
der siebziger Jahre im brackigen Wasser eines Brunnens vor sich
hin.
Am Karl-Franke-Platz galoppiert unvermittelt eine etwas
zerzauste Buchsbaumhecke dem Betrachter entgegen. Pferde und
Reiter sind mit viel Liebe aus dem Grün herausgeschnitten. Der
Drang zur Dekoration scheint in Bad Harzburg allgegenwärtig.
Beliebtestes Motiv ist der Fliegenpilz. Ob putzig klein in den
Schaufenstern der Souvenirgeschäfte oder riesig groß als
Kassenhäuschen der Kindereisenbahn am künstlich angelegten
Wasserfall der Radau. "Karten im Fliegenpilz", befiehlt hier ein
kleines Schild.
In Bad Harzburg scheinen sämtliche Größenverhältnisse ins
Gegenteil verkehrt. Aus klein wird groß, aus winzig riesig und
umgekehrt. Das gesamte Personal der deutschen Märchen- und
Sagenwelt bevölkert die Stadt, die an manchen Ecken auf geradezu
unheimliche Weise einer putzigen Vergrößerung deutschen
Schrebergartenglücks ähnelt. Überall ulkige Zwerge, tönerne
Rehe, Miniaturglashumpen mit aufgemalten Landschaften und in
Holzscheiben eingeschnitzte Sinnsprüche. An anderen Stellen
erinnert Bad Harzburg an Illustrationen aus deutschen
Kinderbüchern der zwanziger und dreißiger Jahre, an eine lang
vergangene Welt unschuldiger Gemütlichkeit. Eine der seltsamsten
Harzburger Attraktionen ist der
sogenannte "Märchenwald", im
Zeitalter virtueller Computerwelten und Disneyland ein geradezu
verwegener Anachronismus. Was einst womöglich Kinderherzen
beglückte, wirkt heute eher beklemmend. Fünf bemalte Häuschen,
in denen bewegliche Bühnenbilder mit trostlosen Puppen Szenen
aus Märchen nachstellen. Hinter trüben Glasscheiben surrt eine
wackelige Hexe in den Ofen, tanzen die sieben Geißlein und
schimmelt Dornröschen zwischen Plastikrosen.
Ein paar Meter entfernt dümpeln im "Piratenteich" ramponierte
Playmobil- Schiffchen vor sich hin und kämpfen
Lego-Soldaten gegen riesige
Plastikenten. An der "naturgetreuen Modellanlage" der
Brockenbahn platzt allenthalben die Farbe ab. Ein kleiner Zug
müht sich quietschend durch eine Dekoration von bemoosten
Spielzeughäuschen. Inmitten dieser von Wind und Wetter
mitgenommenen Märchenwelt steht ein mit bunten Lichterketten
geschmückter Kiosk, in dem ein schlechtgelauntes Rotkäppchen
Pommes frites in der Mikrowelle heiß macht.
Unter den deutschen Bädern und Kurorten gehört Bad Harzburg zu
den weniger glamourösen. Sind Baden-Baden, Bad Homburg,
Wiesbaden, Bad Ems oder Bad Reichenhall bis heute klangvolle,
wenn auch verwitterte Namen mit illustrer Vergangenheit, so
klebt an Bad Harzburg ein denkbar altbackenes Image. Hier
verspielten keine Adligen das Familienvermögen, flanierten keine
russischen Großfürstinnen und überwinterten keine
millionenschweren Industriellen. Auch für Künstler war Bad
Harzburg nicht besonders attraktiv, wenn auch Adolf von Menzel
hier einige Male Urlaub verbrachte.
Die Geschichte Bad Harzburgs ist kurz. Zum Luftkurort wurde der
Ort 1892, zur Stadt zwei Jahre später. Mit der Eingemeindung der
umliegenden, wesentlich älteren Ortschaften erhielt sie 1972
ihre heutige Größe. Über Jahrhunderte war der Harz eine der
ärmsten und unzugänglichsten, deshalb wohl auch sagenumwobenen
deutschen Landschaften. Hier wurden Erze abgebaut, in der Gegend
um Goslar auch Edelmetalle. Später diente die Sole der
Salzgewinnung.
Dunkle, rauschende Wälder, schroffe Gebirge - es war schon immer
eine eher düstere, alles andere als blühende Landschaft. Erst
die Romantik des neunzehnten Jahrhunderts entdeckte ihre
Schönheit. Mit Goethes Harzreisen in den Jahren 1777, 1783 und
1784 wurde der Harz zur deutschen Seelenlandschaft verklärt. Als
dann Heinrich Heine in den Harz reist, stand die Region schon
unmittelbar vor ihrer touristischen Erschließung.
Reisen war nicht länger ein Privileg des Adels oder des reichen
Bürgertums. Schon 1843 gab es eine Eisenbahnverbindung zwischen
Harzburg und Halberstadt, seitdem ist es den Bewohnern der
umliegenden Großstädte wie Hamburg, Leipzig, Hannover oder
Berlin möglich, bequem in die sagenhafte Bergwelt des Harzes zu
reisen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts, mit der Ernennung zum
Kurbad, baut sich Harzburg für die enorme Summe von einer halben
Million Reichsmark eine Trink- und Wandelhalle. In der Zeit bis
1933 erlebt Bad Harzburg eine kurze Blüte. Es kommt wohlhabendes
Publikum aus ganz Deutschland und Holland. Die Pferderennen auf
der landschaftlich eindrucksvoll gelegenen Naturrennbahn sind
gesellschaftliche Ereignisse. 1929 wird die Kabinenseilbahn auf
den großen Burgberg gebaut. Mit den Resten der von Heinrich IV.
errichteten Burg und der 1877 eingeweihten Canossa-Säule wird
dieser von rauschendem Nadelwald bedeckte Berg zu einem
Wallfahrtsort deutscher Vaterlandsliebe.
In den zwanziger Jahren praktizierten sieben zugelassene
Badeärzte in Bad Harzburg. Einer von ihnen war der Chirurg Dr.
Ernst Flinzer, der, eine Sensation
für die damalige Zeit, mit einem kleinen Elektroauto zu seinen
Visiten fuhr, begleitet von der auf dem Rücksitz mitfahrenden
Schäferhündin Fränze. Doch 1933
hatte dieses beschauliche Badeleben ein jähes Ende.
Die jüdischen Gäste, die mondänes Leben und Geld nach Bad
Harzburg gebracht hatten, fuhren nun nicht länger in die
Sommerfrische, sondern waren anderswo auf der Flucht.
Statt dessen durchwanderten mit
strammem Schritt "Kraft durch
Freude"-Reisegesellschaften die deutschesten aller
deutschen Wälder.
Im Oktober 1931 schon hatte das beschauliche Bad Harzburg im
Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden. Als "Nationale
Opposition" versammelten sich hier NSDAP, Deutschnationale
Volkspartei, Stahlhelm und Alldeutscher
Verband zu einer Großveranstaltung im Kampf gegen die Weimarer
Republik. Die "Harzburger Front" bot
Hitler zudem Gelegenheit, die Eigenständigkeit der
Nationalsozialisten und ihren Führungsanspruch im rechten Lager
zu demonstrieren. Im nahen Braunschweig mobilisierten Hitler und
seine Anhänger hunderttausend zum bis dahin größten Aufmarsch
der Nazis.
Als Lazarettstadt überstand Bad Harzburg den Krieg fast
unbeschädigt. Dafür beging man in den Jahrzehnten nach 1945
viele Bausünden. In die schnittigen fünfziger und sechziger
Jahre paßten die traditionell
holzverkleideten und
schindelgedeckten Häuser nicht mehr.
Viele der alten Bauten, die den romantisch altdeutschen Charme
Harzburgs ausgemacht hatten, verschwanden entweder völlig oder
wurden durch Umbauten und moderne Fassaden entstellt. Die
Herzog-Wilhelm-Straße, die Hauptgeschäftsstraße, ist heute
verwechselbare Fußgängerzone. Hier erinnert nur noch der alte
Baumbestand an schönere Tage.
Auch von den großen Hotels der Jahrhundertwende stehen nur noch
wenige. Der Harzburger Hof, einst
erstes Haus am Platz, wartet seit dem Auszug der Spielbank als
Investitionsruine in einem verwilderten Park auf eine ungewisse
Zukunft. Bodes Hotel, ein prachtvoller Holzpalast, ist vor
einigen Jahren abgebrannt. Ebenso das Hotel Juliushall - hier
steht heute ein betongegossenes
Appartementhaus der achtziger Jahre als trostloses Mahnmal
späten Wirtschaftswunderglücks. Das Dilemma zwischen
Denkmalschutz, notwendigen Modernisierungen, Rentabilität und
dem verständlichen Ehrgeiz Bad Harzburgs,
Anschluß an neuere Zeiten finden zu wollen, wird gerade
am Schicksal dieser alten Hotels deutlich. Fließend warmes und
kaltes Wasser und rauschende Tannen allein locken heute
niemanden mehr.
Mit Silberbornbad, Sole-Therme, einer Sauna-Erlebniswelt und den
verschiedenen Trinkbrunnen versucht sich Bad Harzburg als
modernes "Wellnessbad" auch für
jüngere Zielgruppen zu etablieren. Ob allerdings die neuesten
medizinischen Therapieangebote wie die "Colon-Hydro-
Therapie", eine Methode zur Darmentleerung, eine jüngere
Klientel begeistern wird, ist zu bezweifeln. So bleibt doch Bad
Harzburg bis auf weiteres fest in den Händen betagter Damen und
älterer Ehepaare. Genau das macht auch den verschrobenen Charme
Bad Harzburgs aus.
Im Frühstücksraum der Hotelpension Bismarck sind neben dem
Frühstücksbüfett adrett Stoffservietten aufgereiht. Auf den
Serviettenringen kleben Zettel mit den Namen der Stammgäste.
Eine Reisegruppe älterer Damen sitzt plauschend beim Frühstück,
auf die Frage, woher die Damen denn kämen, antwortet eine von
ihnen nicht ohne Stolz: "Aus Dortmund." "Von so weit her?"
antwortet staunend die Serviererin. In Bad Harzburg scheint
nicht nur die Zeit stehengeblieben,
auch Entfernungen werden hier anders bemessen als anderswo.
Die Pension Bismarck ist ein Haus von altem Schlag. Die Zimmer
riechen nach feuchtem Holz, im Treppenhaus, mit Nippes
vollgestopft, hängt der Geruch
schwerer deutscher Mahlzeiten. 3660 Betten gibt es in Bad
Harzburg: in 28 Hotels, siebzehn Pensionen, acht Gästehäusern,
vier Kliniken und Sanatorien, zahlreichen Privatzimmern und 213
Ferienwohnungen. Zentrum des Ortes ist die Trink- und
Wandelhalle mit dem gegenüberliegenden alten Kurmittelhaus, dem
Neubau des Casinos und vor allem dem eigentlichen Kurhaus, einem
eigenwilligen Gebäude der siebziger Jahre. Sein Fest- und
Veranstaltungssaal ist heute das kulturelle Zentrum Bad
Harzburgs.
An diesem Heimatabend der "Fröhlichen Harzgebirgler" ist der
Saal voll besetzt, die meisten der Tische sind für die Gäste des
Hotels Victoria reserviert. Höhepunkt des Programms ist, neben
der Akkordeonistin, die über zwei Stunden auf der Bühne nicht
das Gesicht verzieht, die junge Jodlerin Katharina, erste
Preisträgerin eines lokalen Jodelwettbewerbs und eigenwilligstes
Talent des Ensembles. Die ganze Ambivalenz Bad Harzburgs, diese
merkwürdige Symbiose aus altdeutscher Folklore, touristischer
Verwahrlosung, dunkler deutscher Melancholie und
schildbürgerhafter Skurrilität,
personifiziert sich im Vortrag dieses Mädchens.
Singen kann sie nicht. Der mutlose, helle Sopran klingt so
brüchig und farblos, daß sich das
Publikum eher auf die Harzburger
Käse- und Wurstplatten konzentriert. Als Katharina dann
allerdings zu jodeln beginnt, wechselt die Stimmung im Saal ganz
unvermittelt. Denn diese Jodelschreie sind ganz echt und
ergreifend.
Wenn in Bad Harzburg abends die Lichter ausgehen,
Schneewittchen, die
Fliegenpilze
und die Dortmunder Damen in der Pension Bismarck im Bett liegen,
dann gibt es noch Leben im "Domizil", einer Diskothek für die
"älteren Semester". Hier trifft sich, was noch einigermaßen
beweglich und an Begegnungen fern gemeinsamer Fangopackungen
interessiert ist.
An der Bar sitzt Hussein, ein junger Mann mit Filmstarprofil,
intensiven dunklen Augen, einer Krawatte mit einem Muster aus
Dollarnoten und originellen Deutschkenntnissen. "Luft so gut in
Bad Harzburg. Hier tief einatmen immer möglich. Und Stille.
Stille wie nirgendwo sonst. Aber langweilig - natürlich. Ja,
sehr langweilig. Aber schön." Hussein ist Altenpfleger,
türkisch-italienischer Abstammung und arbeitet in einem der Bad
Harzburger Pflegeheime. "Niemand
kommt zu Besuch, alle immer allein. Traurig! Und alle warten
immer. Dann ist das Herz leer. Warum kommt niemand? Aber Bad
Harzburg, ich nicht mehr weg."
Hussein hat den Traum, sich mit einem Pflegedienst in der Stadt
selbständig zu machen. Bis dahin wird er wohl noch an manchem
Wochenende im "Domizil" sitzen und einsame Kurherzen verwirren.
Auszug aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 24/12/2002 |
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